Gesehen und geliebt
Wie ich bei Gott zu mir selbst finde.
Ich sitze manchmal zwischen den Stühlen. Ich will es allen recht machen – und merke gleichzeitig, dass ich mich abgrenzen muss, um nicht selbst unterzugehen. Ich lächle, obwohl mir zum Weinen ist. Ich sage Ja, obwohl ich Nein fühle. Und in mir tobt ein Gefühlschaos: Liebe und Wut, Hoffnung und Angst, Freude und Neid, Vergebung und Groll – alles auf einmal. Ich frage mich: Was stimmt denn nun? Wer bin ich in all dem?
Ich versuche, die Kontrolle zu behalten, mich zusammenzureißen, alles richtig zu machen. Doch je mehr ich mich anstrenge, desto fremder werde ich mir selbst. Ich funktioniere, aber lebe ich auch? Und wie soll ich all das in mir unter einen Hut bringen?
Und genau in diese innere Unruhe hinein spricht ein Vers der Bibel wie eine Einladung:
„Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz; prüfe mich und erkenne, wie ich es meine.“
(Psalm 139,23)
Dieser Vers ist ein Ausdruck tiefen Vertrauens. Der Psalmbeter bittet darum, durchleuchtet zu werden – nicht, um verurteilt zu werden, sondern um erkannt zu werden. „Erforsche mich“ bedeutet: Sieh mich so, wie ich wirklich bin – tiefer, als ich mich selbst sehe. „Erkenne mein Herz“ ist die Sehnsucht nach einer Begegnung, in der nichts verborgen bleiben muss. Und „erkenne, wie ich es meine“ bringt das Ringen zum Ausdruck, trotz aller inneren Widersprüche aufrichtig zu sein. Es ist ein Gebet der Hingabe, der Selbsterkenntnis – und der Hoffnung auf Annahme.
Vor Gott darf ich aufhören, eine Rolle zu spielen. Ich darf ehrlich sein – mit allem, was in mir ist. Gott hält meine Widersprüche aus. Er läuft nicht weg, wenn ich mich selbst nicht mehr verstehe. Er schaut mich an – ganz. Und liebt mich – ganz.
Ich erinnere mich an ein stilles Gebet nach einem Streit. Ich war verletzt, enttäuscht, vielleicht auch schuldig. Ich brachte all das vor Gott. Kein schönes, ordentliches Gebet. Eher ein innerer Aufschrei. Und doch war da Trost – nicht trotz meiner Widersprüche, sondern mitten in ihnen. Und in diesem Moment wusste ich, dass ich nicht allein bin.
Gott ist mein Gegenüber, bei dem ich ich sein darf. Gerade in meiner Begrenztheit, meiner Zerrissenheit, meinem Ringen. Er kennt mein Herz – auch da, wo ich mich selbst nicht mehr durchschaue. Ich muss ihm nichts erklären, darf mich einfach zeigen – ehrlich, ungeschönt, echt. Und er bleibt. In seiner Nähe fühle ich mich gesehen und getragen, auch wenn ich mich selbst nicht mehr finde.
Diese Erfahrung verändert mich. In Gottes Nähe wächst Ehrlichkeit – mit mir selbst. Ich erkenne, dass Ehrlichkeit der Schlüssel zu einer tiefen, heilsamen Veränderung ist. Wer sich selbst annimmt, wie er ist, wer sich in Gottes Licht sieht, der kann sich wirklich verändern – nicht aus Druck, sondern aus Liebe und Annahme.
Weil ich von Gott geliebt bin, darf ich lernen, mich selbst zu lieben. Nicht perfekt, nicht immer stark – aber wahrhaftig. Und das macht frei. Schritt für Schritt, Tag für Tag, in Gottes Nähe, die mich trägt und in der ich immer mehr zu mir selbst finde.
Friedemann Heinritz